Islamische Mystik und Weltverantwortung heute

Gerhard Tucek, mag. dr. phil.

Sehr geehrte Damen und Herren!

In der Ankündigung zu diesem Abend steht, ich würde Lösungsvorschläge zur Überwindung des Nah-Ost-Konflikts aus muslimisch-mystischer Sicht machen.

Nun, ich denke, dass es hierzu berufenere Persönlichkeiten als mich gibt. Worüber ich sprechen möchte, ist vielmehr die Wahrhabung von Weltverantwortung, welche die islamische Mystik - und nicht nur diese - in der heutigen Zeit einfordert. Auf der Grundlage dieser Überlegungen mag dann jede Person entsprechende Überlegungen zu obigen Konflikt anstellen.

Ich möchte meine Gedanke in Form von 4 Thesen zusammenfassen.

These 1: Wir benötigen eine interkonfessionelle Spiritualität

Die Menschen suchen seit allen Zeiten den Weg in die diesseitige Erfahrung des Heiligen. In den religiösen Konfessionen herrscht die Idee einer besseren Welt im Jenseits vor - einer Welt ohne Leid und Tod. Bei genauerer Betrachtung steht hinter diese Anschauung eine Kritik am Schöpfer, der offenbar nicht in der Lage ist, eine vollkommene Welt zu erschaffen. Bei all dem vorherrschenden Unrecht und Grauen in der Welt stellt sich die Frage, ob Gott etwas falsch gemacht hat.

Worin liegt der Sinn des Lebens, des Leidens, des Bösen, des Todes?

Der konfessionelle Islam verkündet die wahre Welt im Jenseits. Dies erscheint dem Mystiker als nicht erstrebenswert. Er sucht die Vereinigung mit Gott bereits im Diesseits. Daher haben für ihn auch Paradiesversprechungen im Jenseits keine Relevanz, da er ja auch dort von Gott getrennt ist. So ist aus sufischer Sicht demnach der Weg in das Hier und Jetzt das Ziel.

Alle Religionen haben Wege gesucht, aus dieser Enge konfessioneller Sichtweisen herauszufinden. Darin liegt auch heute Wesen und Zukunft der Religionen. Denken wir z. B. an Halladsch, der in Verzückung mystischer Ich-Entgrenzung rief "ich bin die göttliche Wahrheit". Die konfessionellen moralisierenden Gralshüter religiöser Wahrheit haben ihn dafür getötet .

Eine derartige enge Sicht von Religion gleicht einem Mausoleum. Wesentliches Ziel muss es aber sein, in die Erfahrung dessen zu gelangen, was die Religionsstifter vermitteln wollten, nämlich einen neuen Bewusstseinsraum. Aus diesem Grund haben auch die islamischen Mystiker immer betont, dass man mit dem rastionalen Bewusstsein diese Liebe nicht verstehen kann (Yunus Emre: Bu aklu fikrile ... oder Rumi, "Der Verstand setzte sich den Liebenden in den Weg" ...) Modern gesprochen geht es darum, in einen transrationalen Bewusstseinsraum vorzudringen - oder wie die Sufis sagen ". . . einzuziehen in sein Herz".

In diesem Bewusstseinsraum besteht Einheit (vahted) in der Vielheit. Denn die Wahrheit kann nur eine sein.

Daher muss auch heute wieder Religion den Gottessucher durch die jeweilige Konfessionen hindurch in diesen gemeinsamen Wahrheitsraum führen. Es gibt nämlich keine konfessionsgebundene Gotteserfahrung sondern vielmehr wird die jeweilige Erfahrung vor dem Hintergrund konfessioneller Strukturen gedeutet.

Der Streit zwischen Christen, Muslimen und Juden zeigt, dass die exoterischen Vertreter dieser Religionen immer noch nicht in der Lage sind, ihre religiösen Ideen auf das Leben als solches anzuwenden und nicht nur auf die eigene Gesellschaft. Eigentlich müssen wir uns eingestehen, dass sie sich in Bezug auf die Anforderungen einer modernen Welt ohne geographische Horizonte disqualifiziert haben. Was wir benötigen, ist ein Mythos, der den Einzelnen sich nicht mehr nur mit seiner beschränkten Gemeinschaft identifizieren lässt, sondern mit dem gesamten Planeten. Doch wie kann das gehen? Dies führt mich zu meiner

These 2: Es ist Aufgabe der Religionen, in die Erfahrung dessen zu führen, was sie in ihren Schriften verheißen

Es besteht offenbar ein natürliches Spannungsfeld zwischen konfessioneller Religionsauslegung und mystischer Welterfahrung. Der berühmte Ausruf Halladschs "en el hak - ich bin die absolute Wahrheit" kann als Offenbarung Gottes in diesem Menschen verstanden werden. Das Hadith kudsi (außerkoranisches Gotteswort) ". . . Ich war ein verborgener Schatz und sehnte mich danach erkannt zu werden, deshalb schuf ich die Welt" verweist aus sufischer Sicht darauf, dass Gott sich ganz und gar in uns als Mensch offenbaren möchte, so wie er sich im Baum als Baum offenbaren, im Tier als Tier und im Stein als Stein offenbaren möchte.

Wir sehen hieran, dass der Begriff "Offenbarung" aus konfessioneller und mystischer Sicht unterschiedlich verstanden und gedeutet wird. Aus sufischer Sicht bedeutet aber der Begriff "Offenbarung" lebendiges, ganzheitliches Erfahren des Göttlichen. In einem religiös-konfessionellen Sinn wird hingegen das Nacherzählen einer überlieferten Heilserfahrung und -geschichte verstanden.

Somit ist es aus der Sicht des Mystikers die wichtigste Aufgabe des Menschen, ganz Mensch zu sein, mit allen Möglichkeiten und Potenzen. Ich habe bei einem Freund eine Karikatur gesehen, wo Gott an einem Computerbildschirm sitzend dargestellt wird, der mit den Menschen "Schicksal spielt".

Vor kurzem habe ich den bildhaften Vergleich des Zenmeisters und christlichen Mönches Pater Willigis Jäger gehört, der Gott als klingende Symphonie beschreibt. Die Geschöpfe sind eine je individuelle unverkennbare und einmalige Note, deren einzige Aufgabe es ist zu klingen. Entscheidend ist die Musik, nicht die einzelne Note. So ist es meine Aufgabe, als Mensch als diese eine individuelle Note zu erklingen, die "Kadir" heißt. Rumi hierzu: "Alles wurde ER, was mir blieb, ist nicht einmal mein Name."

Es geht also um die Erfahrung des Lebenssinns im "Jetzt und Hier" und nicht erst im Jenseits.

These 3: Der Mensch der Zukunft muss ein Mystiker sein und konfessionelle Grenzen überwinden

Die Vielzahl kriegerischer Auseinandersetzungen weltweit zeigt, dass eine verbindliche Werteordnung für ein menschliches Zusammenleben - die keine Horizonte mehr kennt - nicht aus einem "du sollst" und "du musst", "du darfst" und "du darfst nicht" entstehen kann.

Diese Ge- und Verbote haben uns als spirituelle Wesen nicht weitergebracht. Um konfessionelle Ge- und Verbote hinter uns zu lassen bedarf es der direkten, authentischen mystischen Erfahrung. Der "Nu" - der gegenwärtige Augenblick ist die direkte Kontaktstelle zum Göttlichen. Hier und Jetzt ist Erfahrung möglich. Wenn wir diese Erfahrung denken, sind wir bereits getrennt.

Dies öffnet dem Menschen Raum und Zeit zur Gotteserfahrung in allem, was ihm begegnet. Gotteserfahrung wird möglich in allem, was wir tun und erleiden. Das Eigentliche liegt in der Erfahrung der göttlichen Wirklichkeit, aus der heraus die Interpretation meiner Religiosität und die Gestaltung meines Lebens kommen muss. Somit ist Gott nicht nur in der Moschee oder in der Kirche zu finden, sondern allgegenwärtig.  Der Mystiker Junus Emre hat dies so formuliert: "Illim illim bilmektir . . . Weisheit ist, Weisheit zu kennen. Kennst du dich selbst nicht, wie ist da Weisheit möglich. Hodscha, wenn du magst. geh' 100 mal auf Pilgerfahrt. Besser ist es, einzukehren in dein Herz."

These 4: Gelebte Mystik führt zu einer Verantwortung für diese Welt

Die lebendige Erfahrung des Anderen als eins mit mir bedeutet den Tod des kleinen "Ich" - die Überwindung des Egozentrismus. Dies führt zur Einheitserfahrung mit dem Anderen und den Geschöpfen. Ein Handeln, welches aus dieser Erfahrung gespeist wird, wird die Grundlage für eine Ethik, die sagt: "Deine Freude ist meine Freude, dein Leid ist mein Leid". Eine daraus gespeiste Handlung wird anders ausfallen als jene, welche Nächstenliebe auf einem "du sollst" und "du musst" begründet.

Nur wenn das Leid, die Freude und das Leben des Anderen als eigenes Leid, Freude und Leben empfunden wird, kann eine neue Weltordnung entstehen. Jede Mystik ist in diesem Sinne der Welt zugewandt, denn der Mystiker kann nicht anders handeln als weltverantwortlich. Bildlich gesprochen sagt das Auge auch nicht zur Hand "ich liebe dich", da sie zueinandergehören.

Daher wird es aus dieser Sicht kein Fortschritte an den Konfliktherden dieser Welt geben, wenn wir nicht in der Lage sind, diese Form des Mitfühlens und der Solidarität zu leben. Das Engagement für die Welt ist kein Widerspruch zum Engagement für Gott, nur eben aus der Erfahrung heraus. Und dies ist der zentrale Punkt. Der heilige Koran sagt hierzu: "Was immer du tust, gedenke meiner, ob im Sitzen, Gehen, Stehen, Liegen." Es gibt unter euch Menschen, die ihrem Tagewerk nachgehen und keinen Augenblick von mir getrennt sind. Diese Koranverse verweisen auf das Sakrament des Augenblicks. Eine Mystik, die keine soziale Verantwortung übernimmt und kein soziales gesellschaftliches Engagement kennt, ist eine Pseudomystik.

Es gibt keine vom "Hier und Jetzt" abgehobene Transzendenz. Doch weil sich der Mystiker ganz auf Gott ausrichtet, sieht er in allem Gott. Er trägt Gott in allen seinen Werken, und Gott ist in all seinen Werken.
Der Koran hierzu: ". . . Und wenn ich mich einem Menschen in Liebe nähere, bin ich das Auge, mit dem er blickt, die Hand, mit der er greift, der Fuß, mit dem er geht . . . Letztlich geht es um die Selbsttranszendenz des einzelnen Individuums und des Universums. Selbsttranszendenz des Universums meint, dass es des sowohl des Individuums als auch der Öffnung zum Ganzen hin bedarf. Eine Masche macht auch erst im Kontext eines Netzes Sinn. Das ganze Universum ist angelegt auf Selbsttranszendenz. Wenn sich das Kleinere verweigert, zum Größeren hin zu öffnen, stellt es sich gegen diese Selbsttranszendenz. Wir können den Begriff "Selbsttranszendenz" auch mit "Liebe" übersetzen. Liebe ist ein Sich-Öffnen und eine Entgrenzung zum Anderen hin. Im Bild von Netz und Masche geht es darum, seine menschliche Identität aufrecht zu erhalten und gleichzeitig offen zu sein für das Ganze.

Somit geht es nicht darum, Gott in Gebetshäusern und Riten zu verehren, sondern Ihn im Alltag zu leben. Dies ist der Auftrag an die Religionen.
Rumi sagte hierzu: "Bis Schule und Minarett nicht zerbröckeln, wird dies unser heiliges Werk nicht vollendet sein. Bis Glaube nicht zur Verwerfung und Verwerfung nicht zu Glauben wird, gibt es keinen wahren Muslim."
Was Rumi hier meint, ist nicht die Verwerfung von Religion, sondern vielmehr die lebendige Erfahrung dessen, was die religiösen Bekenntnisse uns verheißen.
Wiederum Manzur Halladsch: "Meinst du, ich bete zu Gott um ihn zufriedenzustellen? Gebet ist für Liebende Unglauben. Ungläubig war ich nun für Gottes Religion. Mir ist Unglaube Pflicht. Doch schlecht bei den Muslimen. Da sprach Gott zu mir: 'Kehre lieber um, und folge mir nicht, es könnte Dir schaden . . .'"

Zusammenfassung

Abschließend und zusammenfassend möchte ich sagen - und dies hat konkreten politischen und sozialen Bezug zur Nah-Ost-Frage -, dass wir gemäß bisheriger Aussagen spirituelle Wesen - also Geist - sind, die für eine gewisse Zeit eine menschliche Erfahrung machen.
Rumi: ". . . Zuerst warst du Kristall und wandeltest dich zur Pflanze. Dann wurdest du Tier. Ist dies Geheimnis dir unbekannt? Später wurdest du Mensch, begabt mit Wissen, Vernunft und Vertrauen. Betrachte deinen Leib, eine Ansammlung von Staub, wie vollkommen ist er gewachsen. Nachdem du deine Reise als Mensch beendet hast, wirst du zum Engel werden, sicherlich. Damit ist dein Dasein auf dieser Erde zu Ende. Dein Ort ist der Himmel. Durchschreite endlich auch das Engeldasein: Betritt den Ozean, in dem du als Tropfen zum Meer werden kannst, eines von hundert Meeren des Oman. Mach dich frei vom Gedanken der persönlichen Geschlechterfolge, sage 'Eins' von ganzer Seele. Wenn dein Körper alt geworden ist, was tut's? Die Weltenseele ist immer jung. . . ."

Wir sind letztlich nicht durch Raum und Zeit von einander getrennte materielle Wesen, die von Zeit zu Zeit eine spirituelle Erfahrung machen, sondern wir sind gemäß Rumis Zeilen Bewusstsein, welches für eine gewisse Zeit eine menschliche Ausdrucksform angenommen hat.

Die orthodoxe Auslegung aller drei monotheistischen Religionen führte dazu, dass aus einem Eingott- ein Einziggottglaube wurde. Die größte Gefahr geht nicht von jenen aus, welche sagen "Es gibt keinen Gott", sondern von denen die behaupten "Es gibt keinen Gott außer meinem".

Spirituelle Ideen müssen sich in sozialen Realitäten widerspiegeln. Alle Religionsstifter waren gleichermaßen soziale Revolutionäre, die zu gelebter Solidarität aufrufen. So hat auch der gegenwärtige Nahost-Konflikt hat eine entscheidende soziale Dimension. Zentrales Element zur Konfliktlösung ist die Zubilligung der Rechtmäßigkeit des Anderen. Dabei sind vier Fragen zu stellen, die danach aneinander angenähert werden müssen. Wie sehe ich mich? Wie sehe ich den Anderen? Wie sieht der Andere sich selbst? Wie sieht der Andere mich?

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

Anschrift des Autors:

Mag. Dr. Phil. Gerhard K. Tucek
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