Annemarie Kury
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Wien, 7. Oktober 2001

Liebe Freunde, liebe große Familie der Flüchtlingshelfer!

Heute ist ein herrlicher, warmer, sonniger Herbstsonntag. Geht es uns gut?!

Heute vor zehn Jahren, am 7. Oktober 1991, 15.03 Uhr MEZ, fielen Bomben (oder waren es Raketen?) auf Zagreb. Die Stadt war überfüllt mit Flüchtlingen aus Ostslawonien, vertrieben aus dem zerstörten Vukovar. "Stoppt den Krieg!" war nicht nur in Kroatien zu hören. War der Aufschrei nicht laut genug? Ging er nicht oder ging er zu spät um die Welt?

Der Krieg breitete sich 1992 auf Bosnien aus und dauerte dann noch vier Jahre (Dezember 1995 Friedensvertrag von Dayton). Der Balkankrieg war ein besonders grausamer, brachte Vernichtung, Tod, Verstümmelung, Leid, Not und viele lange, verheerende Folgen.

Ab November 1991 (bis heute) fuhr ich selbst mit Hilfsgütern in diese Krisengebiete. In diesen zehn Jahren konnte ich 137 Fahrten durchführen, wobei ich mit viel Leid konfrontiert worden bin. Aber auch Freude konnte ich bei den vielen menschlichen Begegnungen erleben, wenn z.B. mit unserer Hilfe Schritte zur Verbesserung der Lebenssituation der Menschen erreicht wurden. Bei diesen vielen Lager- und Hausbesuchen - manchmal Ruinenbesuchen -, hörte ich immer wieder: "Uzmite i jedite, uzmite i pijte" - "Nehmen Sie und essen Sie, nehmen Sie und trinken Sie!" Es waren einige der ersten Worte, die ich verstand, und damit lernte ich die dort so ausgeprägte Gastlichkeit, das Teilen des Letzten, kennen.

Einer jungen, vertriebenen bosnischen Kriegswitwe, die Ende 1992 mit ihren zwei Kleinkindern mit mir zu ihren Eltern und Geschwistern nach Österreich wollte, wurde zweimal an der Grenze zurückgeschickt. Ein einziges deutsches Wort kannte sie von ihrem Großvater, der im ersten Weltkrieg beim österreichischen Militär diente: "Zuuriiik" ("Zurück"). Dieses Pferdekommando gibt es heute noch.

Jetzt kehren viele Vertriebene in ihre Heimat zurück, vor allem die Binnenvertriebenen, die die ganzen Jahre schon in bitterster Not lebten und leben. Es gibt Hilfe von ausländischen Organisationen, z.B. mit Baumaterial. Die Begünstigten unterschreiben dabei einen Vertrag, dass sie das Baumaterial binnen drei Monaten verbaut haben, sonst wird es wieder abgeholt. Das neue Haus - egal wie groß es früher war, egal wie groß die Familie ist - darf nur zwischen 54 und 72 Quadratmeter groß werden und muss ebenerdig sein. In der Praxis sieht das so aus: Saliha lebt mit vier Schulkindern in einer nicht ihr gehörenden Ruine in der Nähe von Tuzla. Ihre Eltern, ihre drei Brüder, ihr Mann und dessen Bruder sind alle im Krieg getötet worden. Die Familie lebt nur von unseren Patenschaften. Anfang des heurigen Sommers wurde ihr Baumaterial für ihr Haus in Janja versprochen. Sie wartet, wartet, wartet ... Am 26. September fahre ich mit ihr zu ihrem Heimatort, um nach dem versprochenen Baumaterial zu fragen. Janja ist ca. 60 Kilometer von Tuzla entfernt, mit dem Auto eine Stunde Fahrt. Knapp vor uns kommt auch der Lastwagen mit dem Baumaterial an. (Wieso?) Wir laden bei immer stärker werdendem Regen Blockziege], Dachziegel, Zement, Kalk und Holz für den Dachstuhl ab. Wer hat schon einmal einen Lastwagen voll Baumaterial händisch abgeladen? Aber was weiter? Wie können wir weiter? Da heißt es rechnen und handeln. Ein Bauarbeiter kostet pro Tag ca. 25 Deutsche Mark (die offizielle Währung in Bosnien), das sind 175 ATS. Das heißt, mit ca. 3.000 DM (21.000 ATS) könnte der Rohbau stehen. Die Zeit vor dem Wintereinbruch und auch die vorgeschriebenen drei Monate drängen zur Eile. Wir konnten helfen - es wird schon gebaut ...

Ohne bürokratischen Aufwand ist es für uns (für mich) möglich, den Menschen in solchen Situationen zu helfen, sozusagen von Haus zu Haus. Es wird viel gebaut: Tankstellen, Moscheen, Kirchen sind auffallende Bauten, doch scheinen sie mir im Verhältnis zu Fabriken und Einfamilienhäusern sehr viele und oft sehr prunkvoll.

In Bosnien ist der Unterschied Arm und Reich ganz groß. Die Mindestpension betrug bis September 2001 117.- DM, minus 3.- DM Steuer = netto 114.- DM. Ab Oktober ist eine Kürzung aller Pensionen um 25 Prozent angesetzt. Das heißt, die Mindestpension - und ca. die Hälfte Pensionisten sind Mindestrentner - wird dann rund 600.- ATS betragen.

Ein Kilo Mehl, ein Kilo Zucker, ein Wecken Brot (700 Gramm) kosten je 1 DM.

Eine Chefköchin in einem Restaurant mit einer 60-Stunden-Woche + ungezählte unbezahlte Überstunden verdient zwölf Mal im Jahr (kein 13./14.) netto 600.- DM, bei zehn Tagen Urlaub (und die nur im Winter). Der Arbeitgeber verdient ca. 10.000.- bis 15.000.- DM netto im Monat. Das heißt, in Bosnien sind die Mindestrenten so niedrig, dass man nicht überleben kann; andererseits gibt es Menschen, die nicht das Zehnfache, sondern das Hundertfache davon verdienen. Da stimmt etwas nicht im System!

Die vielen Arbeitslosen erhalten keine Unterstützung und sind nicht krankenversichert. Arztbesuch und Medikamente sind daher immer noch selbst zu bezahlen.

Wir haben zur Zeit 41 Patenschaften, und das sind
                 3 Vollwaisen
               10 Halbwaisen
               13 Behinderte
               15 Arbeitslose
Zusätzlich unterstützen wir einen Kindergarten in Sarajevo.

Es gibt kein soziales Netz. Es ist weiter hohe Arbeitslosigkeit, Korruption und Ausbeutung. Die Mitarbeiter des Sozialamtes in Tuzla haben keine Entlohnung bekommen und streiken seit mehr als zwei Monaten. Ein Zettel an der Tür des Amtes: "Wenden Sie sich an das Ministerium." Beim Ministeriwn bekommt man die Auskunft: "Das ist nicht unsere Sache. Warten Sie, bis das Sozialamt wieder arbeitet." Ein Beispiel: Eines unserer behinderten Patenkinder konnte letztes Schuljahr in Sarajevo eine Blindenschule mit Internat besuchen. Jetzt ist es nicht möglich. Denn dazu braucht es das Einweisungspapier des Sozialamtes.

Immer noch gibt es tausende Frauen, deren Männer noch nicht gefunden wurden, und die keine Witwen- bzw Waisenrente bekommen. Wann immer ein Massengrab ausgegraben wird, kommen die menschlichen Reste in einen Sack, die Kleidung wird sorgfältig aufgelegt, der Tascheninhalt kommt in ein durchsichtiges Plastiksackerl dazugelegt, und das Ganze hat eine Nwnmer. Schlangen von Frauen ziehen langsam und still vorbei. Dann ein Aufschrei: "Ja, das hat er angehabt, als sie ihn geholt haben!"

In Kotor Varos und Umgebung warten zirka 1.000 Frauen auf das Auffinden ihrer Männer, im Dorf Dabovci 163. Ich sprach mit einer von ihnen, die ihren Mann und ihre drei Söhne sucht.

Bei meiner Fahrt vom 19. bis 28. September 2001 konnte ich erfahren, dass heuer schon weniger Minenunfälle waren. Dass doch die Rückkehr der Vertriebenen im kleinen Ausmaß im Gange ist. Dass etliche Häuser dieses Jahr ein Dach bekamen. Dass Heu und Weizen geerntet wurden, wo vor vier Jahren noch Minen lagen und Wildnis war. Die zurückgekehrten kroatischen Bewohner von Tramosnica haben von ihrer ersten Ernte 3.000 Kilo Weizen an muslimische Rückkehrer von Cepak gegeben. Im Vorjahr bekamen die Kroaten von den Muslimen Türen und Fenster.

Zwölf Familien haben aus unserem Spendentopf je einen Herd, à 250 DM, und 72 Familien haben je zwei Kubikmeter Holz, à 35 DM, bekommen.

Ganz besonders viel Freude machen "unsere" lustigen Ziegen in Bosnien. Die Frühjahrsziegen haben sich dank der Bemühungen der Böcke vermehrt; die Zicklein springen herum, die Ziegeneltern sind gesund und ständig in Bewegung. - In sechs Dörfern sind unsere Tiere Grundlage für eine Existenz.

In der Zeit, als Bosnien von der österreichisch-ungarischen Monarchie verwaltet wurde (1878 - 1918), wurde für Bosnien eine Verordnung erlassen, nach der alle Ziegen zu schlachten seien, da sie die Natur zerstörten. In Bosnien verstand man immer schon, nicht sinnvolle Verordnungen zu umgehen:
               "Cijela Tuzla
               jednu kozu muzla,
               pa se hvali
               da se sirom hrani."
"Ganz Tuzla molk eine Ziege und prahlte, dass es mit diesem Käse ernährt werde." - Damals wie heute gab es Überleben durch Ziegen.

So kam ich wieder aus Bosnien zurück mit vielen, vielen Dankenschön für Patenschaften, Mietzuschüssen, Ziegen, Geld für den Lebensunterhalt, für Heizmaterial, Baulöhne, Mischmaschinen, Stromschulen ...

Mit ganz lieben Grüßen Eure

 

annemariekury@hotmail.com