Vom Getzenberg in die Prairie.
Eine fast 500jährige Geschichte von Verfolgung, Niedergang und Neuanfang
Mag. Dr. Astrid von Schlachta

"Da er aber beständig und redlich als ein christlicher Held in seim Glauben verharret, wurde er nach viel erduldeter Tyrannei von den argen Kaiphas- und Pilatuskindern verurteilt, also lebendig in Scheiterhaufen getan und verbrennet." Innsbruck, Goldenes Dachl, Februar 1536 – hier endete das Leben von Jakob Huter und die hutterische Chronik schildert die Ereignisse ausführlich. Die "Kaiphas- und Pilatuskinder", die geistlichen und weltlichen Obrigkeiten, wollten mit der Verbrennung Huters, Symbolfigur der mit unerbitterter Härte verfolgten Tiroler Täuferbewegung, ein Zeichen der Abschreckung setzen. Doch die Flammen des Scheiterhaufens verfehlten ihre Wirkung: Die Ideen und Ziele der später nach ihrem Gründer benannten "Hutterer" verglühten vor dem Goldenen Dachl keineswegs.

Ganz im Gegenteil: Heutzutage leben über 42.000 Hutterer in den USA und in Kanada auf großen Höfen ("colonies") mit bis zu 100 Bewohnern. Diese Kontinuität der hutterischen Gemeinde von ihren frühen Anfängen im 16. Jahrhundert bis heute stellt ein beeindruckendes und in der Geschichte gemeinschaftlich lebender Gesellschaften außergewöhnliches Phänomen dar. Doch die Faszination, die die Hutterer auf den Menschen des 21. Jahrhunderts ausüben, liegt nicht nur in dieser Kontinuität begründet. Auch die Tatsache, dass eine Gruppe von Menschen heutzutage in der Prairie Nordamerikas ein mehr oder weniger abgeschiedenes Leben führt und sich mit jahrhundertealten Traditionen, Regeln und Normen als ein gut funktionierendes Gemeinwesen präsentiert, trägt zu ihrer Attraktivität bei. Bei aller Faszination, die das hutterische Leben in Gütergemeinschaft bis heute ausübt, darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Gemeinde in ihrer fast 500jährigen Geschichte von Krisen nicht verschont blieb und der Fortbestand sogar mehrmals gefährdet war. Die Hutterer schafften es jedoch immer wieder, sich neu zu organisieren. Dabei orientierte sich die Gemeinde an dem äußerst reichhaltigen, gemeindeeigenen Schriftenbestand aus dem 16. Jahrhundert, der die Regeln und Normen und die Traditionen überliefert – der Grund dafür, dass das hutterische Leben auch heute noch vom Gerüst der fast 500 Jahre alten Traditionen getragen wird.

"Vermeine wohl Pusterer zu haben." Mit diesem Wunsch reiste der hutterische Sendbote Peter Ridemann 1539 durch Hessen, wo er auf viele lau gewordene Täufer traf. Die Pusterer seien da anders – sie würden begeistert für den täuferischen Glauben einstehen und am Aufbau der Gemeinde vorbildlich mitarbeiten. Die Pustertaler standen im 16. Jahrhundert am Anfang der hutterischen Gemeinde. Die Grundlagen legte Ende der 1520er Jahre der Hutmacher Jakob Huter aus dem Weiler Moos bei St. Lorenzen im Pustertal. Als starke Persönlichkeit und charismatischer Führer konnte Jakob Huter der Gemeinde eine Form geben und ihr soziales und geistliches Leben in Bahnen lenken, die den Fortbestand der Gemeinde für die nächsten Jahrhunderte sicherten. Jakob Huter erkannte sehr schnell, dass es für die Anhänger des täuferischen Glaubens unmöglich sein würde, in Tirol zu überleben. Die katholische Kirche und die landesfürstliche Regierung sahen in den Nonkonformisten, die den Eid verweigerten, pazifistisch lebten und sich staatlicher Gewalt in geistlichen Dingen nicht beugen wollten, eine Gefahr für das Land: Gefängnis und Hinrichtung waren die Folge. Somit startete Jakob Huter ein für das 16. Jahrhundert und seine logistischen Möglichkeiten sehr bemerkenswertes Projekt. Er organisierte die Ausreise der Täufer aus Tirol nach Mähren, wo protestantische Grundherren Toleranz und genügend Möglichkeiten zum Siedeln, Wirtschaften und Leben boten. Mit ihren handwerklichen Fertigkeiten stießen die Hutterer in ökonomische Lücken auf den adeligen Grundherrschaften und wurden somit zu einem unverzichtbaren Bestandteil der wirtschaftlichen Entwicklung in Südmähren.

Trotz der Verfolgung fand der täuferische Glauben in Tirol bis ins späte 16. Jahrhundert viele Anhänger. Regelmäßig besuchten Sendboten aus Mähren ihre Tiroler Glaubensgeschwister, um diese durch Predigten und Versammlungen, die an versteckten, abgelegenen Orten (beispielsweise auf dem Getzenberg im Pustertal) stattfanden, geistlich zu stärken. Während dieser Besuche wurden auch diejenigen gesammelt, die sich zu einer Auswanderung entschlossen hatten. In größeren Gruppen zog man Richtung Inn – entweder über das Wipptal oder das Zillertal. Mit Schiffen ging es dann weiter über Inn und Donau bis nach Grafenwörth bei Krems, wo bereits mährische Helfer warteten, die die Flüchtlinge auf dem Landweg zu den nördlich gelegenen hutterischen Siedlungen führten.

In Mähren nahm die hutterische Gemeinde nach zwei kürzeren Verfolgungszeiten ab der Mitte des 16. Jahrhunderts einen wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung. Der Strom an Glaubensflüchtlingen aus Tirol und anderen Gebieten des Reiches nach Mähren riss nicht ab, die Zahl der Hutterer wuchs bis zum Jahr 1600 auf ca. 25.000. Damit dürften sie bis zu 10% der Bevölkerung im südmährischen Raum gestellt haben. Ihre Siedlungen bestanden aus großen "Haushaben" oder Bruderhöfen, auf denen die Bewohner gemeinsam lebten und arbeiteten – das markante Kennzeichen war die Gütergemeinschaft. Gemeinde- und Handwerksordnungen regelten den Tagesablauf, das soziale und geistliche Leben sowie die handwerklichen Tätigkeiten auf den Haushaben.

Auch die Hierarchien waren genau vorgegeben. Jedes Haushaben hatte mindestens einen "Diener des Wortes", der für die geistliche Unterrichtung und Führung zuständig war. Ein "Diener der Notdurft" stand dem ökonomischen Bereich vor; er verwaltete auch die gemeinsame Kasse und war für die wirtschaftlichen Kontakte nach außen verantwortlich. Die Hutterer konnten sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts als zuverlässige und Qualitätsarbeit garantierende Geschäftspartner etablieren. Vor allem Adelige kauften gerne die Produkte der Gemeinde; berühmt waren die Eisenwaren: Bestecke, Bettgestelle und Kutschen – von roten Samtkarossen über vergoldete Karossen bis hin zu Luxuskutschen mit Damastbezug. Doch nicht nur als Handwerker waren die Hutterer den Adeligen willkommen, sondern sie wurden auch in den herrschaftlichen Bierbrauereien beschäftigt, betrieben Mühlen und verwalteten Meierhöfe. So entstand eine enge Bindung zwischen den Adeligen und den Hutterern, die erst nach Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges endete.

Mit dem zunehmenden Ansehen und den wachsenden Kontakten zu ihren südmährischen Nachbarn wurde das Leben auf den Haushaben um 1600 jedoch auf eine ernste Probe gestellt. Die Produktion von Luxusgütern und die allgemeine Prosperität ließen auch innerhalb der Gemeinde den Lebensstandard steigen und den Wunsch nach einen luxuriöseren Leben wach werden. Die Gütergemeinschaft und die Absonderung von der "Welt" wurden immer mehr unterwandert. Der hutterische Lebensstil wurde von einigen Mitgliedern offen infrage gestellt, generell gewann ein individuelleres Leben an Attraktivität – Sprengstoff für die Gütergemeinschaft. Die Vertreibung aus Mähren im Jahr 1622 – alle Nicht-Katholiken mussten Mähren verlassen – brachte zusätzliche Unruhe in die Gemeinde, zumal viele Hutterer dem Druck nicht standhielten, in Südmähren blieben und sich der katholischen Kirche anschlossen. Die übrigen flohen nach Oberungarn (heutige Slowakei) und nach Siebenbürgen, wo bereits hutterische Haushaben existierten, die die Flüchtlinge aufnahmen.

Durch die Vertreibung aus Mähren setzte ein langsamer, aber stetiger Niedergang der hutterischen Gemeinde ein. In Oberungarn wurde der konfessionelle Druck immer stärker, so dass hier am Ende des 17. Jahrhunderts sowohl die Gütergemeinschaft aufgegeben, als auch die Kindertaufe eingeführt wurde. In Siebenbürgen überlebte ein kleiner Rest von Hutterern, der in den 1750er Jahren eine "Auffrischung" durch Kärntner Transmigranten erhielt. Diese waren Opfer einer neuen Verfolgungswelle unter Maria Theresia geworden, die alle Protestanten nach Siebenbürgen aussiedelte – ein äußerst leidvolles Kapitel. Die Protestanten mussten ihren Besitz zurücklassen und sich in Siebenbürgen mit nur wenigen Mitteln eine neue Existenz aufbauen. Einige von ihnen konnten sich lediglich als Tagelöhner durchschlagen, was sie jedoch in Kontakt mit den Hutterern brachte. Die Kärntner zeigten sich begeistert vom hutterischen Glauben, ließen sich taufen und gründeten einen Bruderhof. Sie organisierten ihr Gemeindeleben entsprechend den alten hutterischen Ordnungen und installierten die Gütergemeinschaft. Vor allem letzterer Schritt trug in den 1760er Jahren dazu bei, dass die Täufer auch in Siebenbürgen einer neuen Verfolgungswelle ausgesetzt waren. Wieder blieb nur die Flucht, diesmal über die Karpaten und durch Walachei nach Südrussland, wo in Wischink (nordöstlich von Kiew) ein Hof aufgebaut wurde. 1802 musste die Gemeinde Wischink wegen eines neuen, den Täufern nicht wohl gesinnten Grundherrn verlassen; das in der Nähe liegende Raditschewa wurde der neue Siedlungsplatz der Hutterer.

Während ihrer Zeit in Siebenbürgen und in Russland geriet die Gemeinde nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich in einige turbulente Entwicklungen und konfliktreiche Auseinandersetzungen. Durch den Anschluss der Kärntner Protestanten war eine neue Traditionslinie, ein starkes protestantisch-pietistisches Element, in die hutterische Gemeinde hineingekommen und auf die überlieferten Traditionen des 16. Jahrhunderts gestoßen. Punkte der folgenden Diskussionen waren vor allem Fragen der Absonderung und der Gütergemeinschaft.

Seit dem 16. Jahrhundert hatten die Hutterer, trotz zahlreicher Kontakte zu ihrer nichttäuferischen Umgebung, im theologischen Bereich eine strikte Absonderung praktiziert. Umfangreiche Schriften, die die Absonderung und die Gütergemeinschaft rechtfertigen – teilweise mit einem gehörigen Maß an Polemik – zeugen davon. Nun, im späten 18. Jahrhundert, öffneten sich die Hutterer gegenüber anderen, nicht-hutterischen Konfessionen. Besonders deutlich wird dies in der Person Johannes Waldners, einem Hutterer, der selbst aus Kärnten stammte und von 1794 bis 1824 Vorsteher der Gemeinde war. Er unterhielt eine fruchtbare Korrespondenz mit Vertretern verschiedenster Gemeinden, unter anderem mit der Brüdergemeine in Herrnhut und mit den Mennoniten. Die Hutterer lasen die täglichen biblischen Spruchlosungen der Herrnhuter und führten Diskussionen über Erwachsenentaufe und Abendmahl.

Doch gerade diese Öffnung sorgte für Konflikte. Es kam zu Abspaltungen – einige Hutterer lebten in Gütergemeinschaft, andere bevorzugten das Privateigentum – und zu Streitigkeiten über den Kurs der Führung. Gleichzeitig setzte ein wirtschaftlicher Niedergang ein; die Gemeinde war auf einem weiteren Tiefpunkt ihrer Geschichte angekommen. 1842 zogen die Hutterer weiter in die Molotschna, in die Gegend von Zaporižžja und Melitopol (heutige Ukraine). Hier konnten sie mit Hilfe der Mennoniten, die schon länger in der Molotschna siedelten und vorbildliche Landwirtschaften aufgebaut hatten, wirtschaftlich rasch wieder auf die Beine kommen. Sozial und theologisch blieb die Gemeinde jedoch zerrissen. In dieser Krise wurde bei einigen Gemeindemitgliedern die Erinnerung an die "guten alten Zeiten" wieder wach, als die Gütergemeinschaft noch praktiziert wurde und die Hierarchien klare Strukturen vorgaben. Erneut griff man auf die alten Gemeindeordnungen und die Schriften des 16. Jahrhunderts zurück. Ein Großteil der Gemeinde schloss sich neu gegründeten Höfen an, die die Gütergemeinschaft wieder einführten. Doch bereits wenige Jahre später, 1874, endete die europäische Epoche der Hutterer, denn auch pazifistische Gruppen mussten in Russland nun Wehrdienst leisten. Ein Ausweg eröffnete sich in Übersee; gemeinsam mit einer Gruppe von Mennoniten zogen die Hutterer in die USA. In den Dakota Territories wurden drei Bruderhöfe gegründet, die zum Ausgangspunkt für die heute über 400 Kolonien wurden. Die bislang letzte Station ihrer Reise erreichten die Hutterer nach dem 1. Weltkrieg. Sie übersiedelten nach Kanada; erneut, um dem Wehrdienst zu entgehen – später zogen einige Höfe wieder zurück in die USA.

Im 21. Jahrhundert präsentiert sich die hutterische Gemeinde als ein erstaunlich stabiles Gemeinwesen. Dennoch stehen auch die Hutterer vor zahlreichen Herausforderungen. Ein Beispiel sind die verschiedenen Sprachen: Ein tirolerisch-kärntnerischer, mit einer steigenden Anzahl englischer Wörter durchmischter Dialekt als Alltagssprache, Deutsch für die Predigten und geistlichen Schriften und Englisch im wirtschaftlichen Leben. In den letzten Jahren hielt die englische Sprache auch im religiösen Bereich zunehmend Einzug, was sich auf einigen Höfen direkt auf den Glauben auswirkte. Denn eine neue, recht beliebige und oberflächliche "englischsprachige" Religiosität konkurriert nun mit der hutterischen, durch die Geschichte geprägten Frömmigkeit. Die Hutterer können auf einen 500 Jahre alten Schatz an geistlichen Schriften zurückgreifen, die die tiefe Spiritualität der Gemeinde, die Erfahrungen durch Verfolgung, Vertreibung und Tod und ganz besonders das Erleben der Gemeinschaft auf den Bruderhöfen überliefern. Dieser hutterische Schatz könnte seine Bedeutung verlieren, wenn Deutsch nur noch die Funktion einer "toten" Kirchensprache erhielte, die lediglich von der geistlichen Elite verstanden wird – ähnlich wie Latein im Mittelalter.

Auch die Erziehung der Jugend und deren Bindung an die Gemeinde stellt eine Herausforderung dar. Zwar ist die Rate derjenigen unter den jungen Hutterern, die die Gemeinde für einige Zeit verlassen, dann jedoch zurückkehren, immer noch relativ hoch, doch sind auch die Hutterer Menschen des 21. Jahrhunderts. Einflüsse von außen finden ihren Weg in die hutterische Gesellschaft – technische Neuerungen im privaten und im schulischen Bereich sind nur ein Aspekt. Generell kollidiert der Wunsch nach einem individueller gestalteten Leben zunehmend mit der Gütergemeinschaft, die nicht auf jeden hutterischen Jugendlichen ihre Faszination ausübt.

Die Hutterer sind aufgefordert, Fragen der Absonderung und der Öffnung zur Außenwelt flexibel zu handhaben, um einerseits ihre deutlich ausgeprägte hutterische Identität zu erhalten, andererseits aber auch eine sensible Anpassung an Veränderungen vorzunehmen. Ein Gemeinwesen, dessen Grundlage jahrhundertealte Traditionen sind, läuft Gefahr, dass es erstarrt, wenn die Mitglieder nur noch von einem hölzernen Gerüst aus Regeln und Normen umgeben sind, dem die Lebendigkeit fehlt.

Die weitere Geschichte der Hutterer dürfte spannend bleiben. Auch die kommenden Generationen sind aufgefordert, sich neu mit ihren Wurzeln auseinanderzusetzen und diese zu den Fragen der Zeit zu positionieren. Die fast 500jährige Geschichte spricht für den Erfolg des hutterischen Modells; ein Erfolg, der manchmal durch eine Krise und einen Neuanfang erkauft war. Die Flammen vor dem Goldenen Dachl, die am Anfang der Geschichte standen, und das Leid der sich durch die Geschichte ziehenden Verfolgung konnten den gelebten Glauben der Hutterer nicht ersticken.

Zuerst erschienen in: Programmheft "Die Hutterer”, Schloßbergspiele Rattenberg 2004

www.hutterites.org/
Die offizielle Homepage der Hutterian Brethren

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